Tödliches Gerücht
Tödliches Gerücht
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FBI-Spezialagentin Bree Adams hat ein persönliches Geheimnis, etwas, das sie in den letzten zehn Jahren vor allen zu verbergen vermochte–zumindest dachte sie das immer. Aber eine zufällige Begegnung im Zug und geflüsterte Worte mit beängstigenden Konsequenzen verändern plötzlich alles. Kommt jetzt die Wahrheit ans Licht oder spielt nur jemand mit ihrem Verstand und ihrem Leben?
Nathan Bishop kennt Bree noch aus der Zeit, als sie beide Straßenkinder waren. Aufgrund ihrer dunklen Vergangenheit stand er einst tief in ihrer Schuld und musste dafür bezahlen. Auf keinen Fall möchte er ihr nochmals helfen. Er hat sich ein neues Leben aufgebaut–ein Leben, das er mit einem Schritt in die falsche Richtung wieder verlieren könnte. Aber die schöne Bree ist verzweifelt–wie könnte er sie da im Stich lassen?
Um die Wahrheit herauszufinden und unschuldige Leben wie auch ihre eigenen zu schützen, müssen sie sich durch ihre Vergangenheit kämpfen und Entscheidungen treffen, die ihnen das Herz brechen könnten, denn hinter jeder Ecke lauert die Gefahr.
Kapitel 1
„Das wird dir noch leidtun.“
Die heiseren, geflüsterten Worte rissen sie aus dem Schlaf. Spezialagentin Bree Adams setzte sich im Bett auf und hielt das Telefon näher an ihr Ohr. „Wer spricht da?“
Es folgte Stille, aber sie vernahm ein Atmen.
„Wenn du mich schon bedrohst, möchtest du dann nicht, dass ich weiß, mit wem ich es zu tun habe?“, forderte sie ihn heraus.
Es wurde aufgelegt.
Sie atmete erst einmal tief durch und ließ den Blick durch ihr schattiges Schlafzimmer wandern. Durch die Vorhänge konnte sie die Lichter von New York City erkennen. Außerdem vernahm sie die lauten Geräusche der Müllfahrzeuge, die sich ihren Weg durch die Straßen hinter ihrem Wohnkomplex bahnten. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte ihr, dass es kurz vor Tagesanbruch war.
Schnell sprang sie aus dem Bett, warf sich einen Bademantel über und durchquerte zitternd den Flur ihrer kleinen Einzimmerwohnung, um die Heizung einzuschalten. Es war Anfang Oktober und man konnte den nahenden Winter bereits spüren. Eigentlich empfand sie die niedrigen Temperaturen als eine willkommene Abwechslung nach dem langen, heißen Sommer, einem Sommer, in dem sich so viele Dinge verändert hatten. Im Juni hatte es im New Yorker FBI-Außenbüro eine massive Umstrukturierung gegeben, deren Folgen noch immer die komplette Organisation erschütterten.
Als sie ihre Küche betrat und die Kaffeemaschine anschaltete, blickte sie sich argwöhnisch um. Alles schien normal zu sein und befand sich an seinem angestammten Platz. Trotzdem verspürte sie eine gewisse innere Unruhe, was der Anrufer offensichtlich beabsichtigt hatte.
Wie war er nur an ihre Nummer gekommen? Als Bundesagentin nutzte sie jede Vorsichtsmaßnahme, um ihr Privatleben zu schützen. Sie würde einen der Techniker bitten zu prüfen, ob er das Telefonat zurückverfolgen könnte, hatte jedoch wenig Hoffnung. Wegwerf-Handys, die nach jedem Anruf entsorgt werden konnten, machten es äußerst schwierig, Verbrecher auf diese Weise aufzuspüren.
Auch war die männliche Stimme absichtlich verzerrt worden, was bedeutete, dass der Anrufer mitgedacht hatte. Weil sie ihn möglicherweise kannte?
Seit sie vor fünf Jahren dem FBI beigetreten war, hatte sie den Großteil ihrer Karriere darauf verwendet, vermisste Kinder wiederzufinden. Vor sieben Monaten war sie Mitglied des CARD-Programms geworden und damit nun Teil eines der vielen Teams zur Reaktion auf kritische Aktionen. Diese schalteten sich stets dann ein, wenn es darum ging, die lokalen Strafverfolgungsbehörden dabei zu unterstützen, ein gefährdetes Kind innerhalb der ersten kritischen Stunden nach einer Entführung zu finden.
Es war ein Job voller Höhen und Tiefen–manchmal frustrierend, entmutigend und grauenvoll, gelegentlich jedoch auch voller Glücksmomente. Und sie liebte ihn. Eine Familie wieder zusammenbringen zu können, gab ihr stets das Gefühl, etwas Großes vollbracht zu haben.
Ihr Telefon klingelte erneut, und sofort lagen ihre Nerven blank.
Schnell lief sie zurück ins Schlafzimmer, hob das Handy vom Bett auf und stellte sich innerlich darauf ein, erneut dieselbe gruselige, rätselhafte Stimme zu hören.
Es war jedoch nur ihr Teamleiter, Spezialagent Dan Fagan, und sie wusste, was das zu bedeuten hatte.
„Was ist passiert?“, fragte sie, ohne sich mit langen Vorreden aufzuhalten.
„Gestern Abend um kurz nach zwanzig Uhr ist eine Zehnjährige aus dem Backstage-Bereich eines Schulkonzerts verschwunden. In der Nähe der Hintertür wurde eine abgebrochene weiße Rose entdeckt.“
Bree versteifte sich. Dies wäre bereits das vierte Mal innerhalb von sechs Monaten, dass ein Kind von einer Schulveranstaltung spurlos verschwand. Das elfjährige Mädchen in Newark war sieben Tage später ermordet aufgefunden worden, und auch das zwölfjährige Mädchen aus Albany war eine Woche später tot. Ein weiteres zwölfjähriges Mädchen aus Philadelphia hatte man lebend in einem verlassenen Gebäude entdeckt, wahrscheinlich nur einen Tag, bevor sie das gleiche traurige Schicksal ereilt hätte. Obwohl sie froh darüber waren, zumindest dieses Kind gerettet zu haben, war der Entführer nach wie vor flüchtig.
Hatte er erneut zugeschlagen?
Hatte der gruselige Anruf von eben irgendetwas mit diesem Vorfall zu tun?
Sie war diejenige gewesen, die das Mädchen in Philadelphia aufgespürt hatte. Ihr Gesicht war es gewesen, das man in den Nachrichten gezeigt hatte. Sie hatte öffentlich versprochen, dass man alles daransetzen würde, um den Weiße-Rose-Kidnapper zu stellen, wie ihn die Presse mittlerweile bezeichnete.
„Wo ist es passiert?“, fragte sie.
„Chicago. Offenbar zieht er weiter in Richtung Westen.“
Ihr Herz klopfte ihr bis zum Halse und das Telefon rutschte ihr aus der Hand. Das scheppernde Geräusch brachte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Sie hob es auf und entdeckte einen Riss auf dem Display, was sich irgendwie wie ein Omen anfühlte. Als sie vor langer Zeit Chicago den Rücken gekehrt hatte, hatte sie sich geschworen, nie mehr dorthin zurückzukehren.
„Hat das Team aus dem Mittleren Westen den Fall übernommen?“ Sie schaffte es kaum, diese Worte auszusprechen.
„Ja, aber sie fordern dich als Beraterin an. Du arbeitest seit Monaten an dem Profil dieses Typen. Wie schnell kannst du am Flughafen sein?“
„Ich bin in einer Stunde dort. Aber du solltest wissen, dass ich gerade einen Drohanruf bekommen habe, männliche Stimme, verzerrt. Er sagte, es würde mir noch leidtun.“
„Das war alles?“
„Das war alles“, bestätigte sie.
„Ich werde Oscar bitten, sich das mal anzusehen“, sagte Dan und meinte damit einen ihrer Techniker. „Und du machst dich auf den Weg nach Chicago. Aber bitte sei vorsichtig.“
Sie ließ das Telefon sinken und atmete erst einmal tief durch. Natürlich würde sie nach Chicago fliegen, weil es ihr Job war und das Leben eines Kindes auf dem Spiel stand.
Es bedeutete aber nicht, dass sie nach Hause zurückkehrte.
* * *
Nach der Landung in Chicago kurz nach neun am Mittwochmorgen erhielt Bree in der FBI-Dienststelle erst einmal eine gründliche Unterweisung durch den zuständigen Spezialagenten, Warren Hobbs. Warren war ein streng dreinblickender Mann Mitte vierzig, mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Nach dem, was Bree über ihn wusste, war er ein kluger, aggressiver Ermittler, und Langsamdenker gingen ihm gehörig gegen den Strich.
Hobbs kam direkt zur Sache. Sein Briefing umfasste das AMBER-Alarmsystem für Vermisstenmeldungen, die Untersuchung des Tatorts und die Vernehmung von Zeugen und Familie sowie die Durchsuchung der Nachbarschaft und die Berichterstattung in den Medien. Nachdem er geendet hatte, forderte er sie auf, die Behörde über die Einzelheiten früherer Entführungen im Zusammenhang mit dem Weiße-Rose-Kidnapper in Kenntnis zu setzen und das Verhaltensprofil darzulegen, das sie bis dato ausgearbeitet hatte.
Genau wie die drei anderen Mädchen war auch Hayley aus ihrer Schule verschwunden, einem Ort, an dem sie sicher hätte sein sollen. Bree hatte mehrere Theorien darüber aufgestellt, warum der Entführer sich dermaßen von schulischen Einrichtungen angezogen fühlte, warum er stets eine weiße Rose am Tatort hinterließ und warum er alle drei zuvor entführten Kinder noch sieben Tage am Leben ließ, bevor sie entweder entdeckt oder getötet wurden. Wenn das Timing auch dieses Mal zutraf, blieb ihnen weniger als eine Woche Zeit, um Hayley lebendig zu befreien.
Was die Identität des Entführers anbelangte, hatten sie bisher nur wenige Details. Sie wussten lediglich, dass er männlich war, circa einen Meter achtzig groß, muskulös und braunhaarig. Dem überlebenden Opfer waren fast die gesamte Zeit über die Augen verbunden gewesen und bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ihr die Binde kurzzeitig abgenommen wurde, trug der Kidnapper eine Ski-Maske, um sein Gesicht zu verdecken. Das Opfer hatte angegeben, dass seine Stimme tief, dunkel und stets bedrohlich klang. Er hatte sehr wenig gesprochen, sie jedoch als sein hübsches kleines Mädchen bezeichnet und gelegentlich einen Satz aus der Bibel über Erlösung oder Rache zitiert.
Bree konnte sich vorstellen, dass dieses Sieben-Tage-Zeitfenster möglicherweise mit dem Alten Testament zusammenhing, da Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hatte und er sich vielleicht ebenfalls in diesem Zeitrahmen seine eigene Welt kreieren wollte. Wie auch immer, jede Minute zählte, wenn sie das jüngste Opfer, Hayley Jansen, lebend finden wollten.
Nachdem das Briefing um kurz vor elf beendet war, nahm sie sich ein Taxi quer durch die Stadt, um sich mit Hayleys Eltern zu treffen. Obwohl sie damit nur die Schritte rekonstruierte, die bereits von den Chicagoer Spezialagenten und der örtlichen Polizei unternommen worden waren, war es für sie doch wichtig, sich selbst ein Bild davon zu machen, ob es sich hier um eine Wiederholungstat handeln könnte.
Der Fall in Philadelphia hatte landesweit für Aufsehen gesorgt. Jemand in Chicago könnte beschlossen haben, auf der Sensationswelle dieses Kidnappers mitzureiten, um ebenfalls solch kläglichen Ruhm zu erlangen.
Immerhin gab es im Gegensatz zu den drei anderen Fällen einige kleine Unterschiede. Die übrigen Mädchen waren allesamt blond und braunäugig gewesen, während Hayley braune Haare und braune Augen hatte. Die weiße Rose, die bei Hayleys Entführung an der Hintertür gefunden wurde, war eine Hybrid-Teerose gewesen, während es sich bei den drei anderen um Floribunda-Rosen gehandelt hatte. Das waren winzige Details, die nichts bedeuten mochten ... oder auch sehr viel.
* * *
Die Jansens lebten in Lincoln Park, einem gehobenen Wohnviertel im Norden von Chicago. Ihr zweistöckiges Haus mit drei Schlafzimmern lag an einer wunderschönen, von Bäumen gesäumten Allee, nicht weit vom Lincoln-Park-Zoo, der Seeuferpromenade und dem Michigansee entfernt.
Diese Nachbarschaft hatte so rein gar nichts mit den Straßen der Stadt gemein, die sie als Kind durchstreift hatte, was gleichzeitig tröstlich wie auch beunruhigend war. Als kleines Mädchen hatte sie immer geglaubt, dass Kinder, die in Häusern wie diesen lebten, alles hatten, was sie sich wünschten und sicher und beschützt aufwuchsen. Natürlich wusste sie es mittlerweile besser, aber es fühlte sich noch immer falsch an, wenn sie einen Bezirk betrat, dessen Bewohner es nicht gewohnt waren, mit der dunklen Seite der Menschheit konfrontiert zu werden.
Als Bree aus dem Taxi stieg, fegte ein eiskalter Windstoß sie fast von den Füßen. Die windige Stadt machte ihrem Ruf mal wieder alle Ehre, aber sie hatte kein Problem damit. Vielleicht würde die Kälte ihr Herz einfrieren und die Erinnerungen fernhalten.
Sie überquerte die Straße und bahnte sich einen Weg durch die Menge an Reportern, die nur darauf zu warten schienen, Neuigkeiten für die Mittagsnachrichten ergattern zu können. Nachdem sie kurz ihre Dienstmarke hatte aufblitzen lassen, winkte der örtliche Polizeibeamte sie hinein.
Sie trat durch die Eingangstür, und ihr geübtes Auge erfasste in Sekundenbruchteilen alle wichtigen Details. Das Haus war nett eingerichtet, mit Gemälden an den Wänden, glatten Hartholzböden und Möbeln, die bequem und bemerkenswert sauber aussahen, wenn man bedachte, dass anscheinend drei Kinder im Haus lebten. Hayley hatte einen jüngeren sechsjährigen Bruder und eine vierjährige Schwester.
Die Kinder schienen verwirrt und abwesend. Das kleine Mädchen weinte, als sie und ihr Bruder von den Großeltern in die Küche gebracht wurden. Weitere Familienmitglieder und enge Freunde gewährten ihr Privatsphäre, sodass sie sich im Wohnzimmer mit Hayleys Eltern, Mark und Lindsay Jansen, ungestört unterhalten konnte.
Inzwischen wusste sie schon so einiges über die Jansens. Sie waren ein attraktives, sportliches Paar Anfang vierzig, hatten sich im College kennengelernt und kurz danach geheiratet. Vor drei Wochen hatten sie ihren zwanzigsten Hochzeitstag gefeiert. Mark arbeitete als Finanzchef bei Buckner Investments; Lindsay war eine ehemalige Lehrerin, momentan jedoch ganz Hausfrau und Mutter.
Hayley war ihr ältestes Kind. Sie war adoptiert worden, nachdem die Jansens sich acht Jahre lang unzähligen Behandlungen gegen Unfruchtbarkeit unterzogen und dann noch zwei Jahre auf der Adoptionswarteliste gestanden hatten. Als die Kleine vier Jahre alt war, passierte das, womit sie nie mehr gerechnet hätten: Lindsay wurde mit ihrem Sohn Connor schwanger, und zwei Jahre später bekamen sie auch noch ihre Tochter Morgan.
Hayleys Adoptionsakte war versiegelt worden, und während die Jansens nie etwas über die biologischen Eltern der Kleinen erfuhren, hatte ein örtlicher Richter die Akte kurz nach ihrem Verschwinden wieder geöffnet. Ihre leibliche Mutter, Samantha Harkness, war ein sechzehnjähriger Teenager gewesen, der in Hammond, Illinois lebte, einem von Armut und Verbrechen regierten Vorort von Chicago. Sechs Monate nach Hayleys Geburt war sie an einer Überdosis gestorben. Über den leiblichen Vater existierten keinerlei Unterlagen. Obwohl die Polizei die Möglichkeit, dass jemand aus der tatsächlichen Familie beteiligt war, nicht ganz ausschließen konnte, schien es doch eher unwahrscheinlich, vor allem aufgrund der weißen Rose.
Als sie sich auf der Couch niederließen, griff Mark nach Lindsays Hand. Er sah aus wie ein Läufer, groß und hager. Bekleidet war er mit einer grauen Stoffhose und einem hellblauen Button-down-Hemd. Lindsay trug eine schwarze Yoga-Hose und eine eng anliegende Jacke mit Reißverschluss. Keiner der beiden sah aus, als hätte er viel geschlafen. Sie waren blass, mit tiefen Schatten unter den Augen, und die Verzweiflung stand ihnen in die Gesichter geschrieben.
„Was können wir Ihnen sagen, das Ihnen hilft, uns unsere Tochter zurückzubringen?“, begann Mark das Gespräch. „Der andere FBI-Agent meinte, Sie seien eine Art Expertin?“
„Ich habe bereits in ähnliche Fällen ermittelt. Mir ist bewusst, dass Sie Ihre Geschichte schon mehrmals zu Protokoll gegeben haben und ich verspreche Ihnen, dass es nicht allzu lange dauern wird, aber Sie müssen mir nochmals erzählen, wann Sie Hayleys Verschwinden bemerkt haben.“
„In Ordnung. Was auch immer nötig sein sollte, um unser Baby zurückzubringen.“ Er atmete tief ein. „Hayley sollte gestern Abend beim Herbstkonzert eine Ballettnummer aufführen“, fing er an, mit vor Schmerz belegter Stimme zu berichten. „Als sich der Vorhang hob und ihre Gruppe erschien, war sie nicht auf der Bühne.“ Er schluckte hart. „Wir sind nach hinten gegangen, um nachzusehen, was passiert war. Zuerst haben wir vermutet, sie hätte einfach Lampenfieber bekommen. Manchmal ist sie sehr schüchtern. Die Lehrerin sagte, sie habe gesehen, wie sie kurz vor dem Auftritt zusammen mit Grace zur Toilette gegangen sei.“
„Aber dort war sie nicht“, fuhr Lindsay fort. „Ich bin direkt hin, aber es war niemand drinnen. Also habe ich überall nach ihr gesucht. Sicherlich können Sie sich die Panik vorstellen, die mich erfasste. Es war ihre Schule, ein eigentlich sicherer Ort. Jeder hinter der Bühne kannte sie.“ Ihre Stimme brach, und eine Träne rollte ihr über die Wange.
„Die Hintertür zur Bühne stand offen“, fuhr Mark fort, als er bemerkte, dass seine Frau nicht mehr weitersprechen konnte. „Wir rannten hinaus auf den Personalparkplatz. Dort war sie ebenfalls nicht, aber eines der anderen Kinder sagte, es hätte gesehen, wie sie mit jemandem weggegangen sei. Da haben wir die Polizei verständigt.“
„Dieses Kind war Grace Roberts?“
„Ja. Sie ist ein Jahr jünger als Hayley, aber sie nehmen seit zwei Jahren zusammen Ballettunterricht und sind gute Freundinnen geworden“, ergriff Lindsay wieder das Wort. „Sie dachte, unsere Kleine hätte es mit der Angst bekommen und sich entschieden, nicht aufzutreten.“ Lindsay atmete gequält ein. „Sie müssen meine Tochter finden, Agentin Adams. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie verängstigt sie ist und was sie jetzt denkt.“ Weitere Tränen liefen ihr übers Gesicht und Mark zog seine Frau an sich.
„Bitte finden Sie sie“, bat er mit gebrochener Stimme, während er Bree anblickte. „Sie ist doch unser kleines Mädchen. Ich habe dem Kommissar bereits gesagt, dass ich gerne bereit bin, einen Lügendetektortest über mich ergehen zu lassen, bereit bin, alles zu tun, was nötig ist. Das gilt auch für Lindsay und jeden anderen in der Familie. Ich weiß ja, dass der Vater immer der Hauptverdächtige ist. Tun Sie, was Sie tun müssen, um mich von der Liste der Verdächtigen zu streichen, damit wir endlich herausfinden können, wer sie in seine Gewalt gebracht hat.“
Bree nickte und sah offene Aufrichtigkeit in Marks Blick. „Gibt es jemanden, mit dem Sie oder Ihre Frau ein Problem haben? Irgendwelche Zwischenfälle mit Nachbarn, Freunden, Kollegen? Irgendeinen Vorfall im Straßenverkehr, den Sie verdrängt haben könnten? Ein noch so kleines Problem, das Sie damit nie in Verbindung bringen würden?“
„Nein“, entgegnete Mark. „Glauben Sie mir, wir haben uns bereits die ganze Nacht den Kopf darüber zerbrochen. Wir haben mit niemandem ein Problem. Unser Leben verlief bis jetzt völlig undramatisch. Uns fällt auch niemand ein, der uns oder Hayley etwas Böses möchte. Sie ist solch ein Schatz.“
„Und Sie wurden auch von niemandem kontaktiert?“, drängte Bree und hasste es, sie damit konfrontieren zu müssen, aber das Mädchen zu finden hatte oberste Priorität. „Hat Sie jemand erpresst? Sie gewarnt, weder die Polizei noch das FBI einzuschalten?“
„Nein.“ Er schüttelte erneut den Kopf. „Ich wünschte, es wäre so. Ich würde alles verkaufen, was wir besitzen, nur um sie zurückzubekommen.“
Mark und Lindsay sagten all die Dinge, die Bree zu hören erwartet hatte, und ihr Verhalten stand absolut im Einklang mit dem, was sie gerade durchmachten. Trotzdem wollte sie das Team Ehemann-Ehefrau kurz getrennt befragen.
„Mrs. Jansen–würden Sie mir Hayleys Zimmer zeigen? Ich möchte so viel wie möglich über sie erfahren und manchmal hilft es zu sehen, wo ein Kind schläft“, sagte sie daher und erhob sich.
Lindsay stand ebenfalls auf und wischte sich die Tränen von ihren nassen Wangen. „Natürlich. Bitte folgen Sie mir.“
Bree war froh, dass Mark sie nicht nach oben begleitete. Von beiden schien er die dominantere Persönlichkeit zu sein und sie wollte erfahren, wie Lindsay sich gab, wenn er nicht im Zimmer war.
Als sie das Zimmer der Kleinen betrat, fühlte sie sich direkt in einen Kindheitstraum versetzt. Alles war in Weiß, Rosa und Lila gehalten. Auf dem Bett befanden sich Kissen und Stofftiere, im Regal stapelten sich Bücher und in einer Ecke stand eine überquellende Kiste mit Spielsachen. Das große Erkerfenster ging hinaus auf die Hauptstraße.
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, an solch einem besonderen, sicheren, gemütlichen Ort aufzuwachsen und urplötzlich dort herausgerissen zu werden.
Hayley Jansen war kein knallhartes Straßenkind; sie war eine verwöhnte Prinzessin, so wie es sich gehörte, und sie mussten sie schnellstmöglich finden.
Sie durchquerte den Raum und blieb vor einem Familienfoto stehen. Es war vor der Geburt ihrer Geschwister aufgenommen worden, und das braunhaarige, kleine Mädchen war ungefähr zwei Jahre alt. Sie machte einen glücklichen und geliebten Eindruck.
„Das ist eines meiner Lieblingsbilder. Ich mag es, von jedem meiner Kinder individuelle Fotos zu haben“, sagte Lindsay.
„Wie ich gehört habe, wurde Hayley adoptiert.“
„Ja. Sie ist unser kleines Wunder. Zehn Jahre lang haben wir versucht, ein Kind zu bekommen oder zu adoptieren und hatten schon beinahe alle Hoffnung aufgegeben, als sie in unser Leben trat. Sie war das hübscheste Baby, das ich je gesehen hatte, obwohl sie kahl war und nur etwa drei Haarsträhnen auf dem Kopf hatte.“ Lindsay lächelte sie traurig an. „Sie hat mich angelächelt und ich wusste, dass sie zu uns gehört, dass sie zu Hause angekommen ist. Ihr Platz ist hier bei uns.“
Lindsays innige Worte zerrten an Brees Herzen. Die Eltern zu befragen, war immer hart und verlangte einem alles ab, um sich zusammenzureißen und auf den Job zu konzentrieren.
„Ihre beiden anderen Kinder sind aber Ihre leiblichen?“
„Ja. Es war verrückt. All diese Jahre des Versuchens–und nichts. Dann, als Hayley vier war, stellte ich fest, dass ich mit Connor schwanger war. Morgan kam zwei Jahre später zur Welt. Ich liebe sie alle so sehr, und Hayley nicht weniger, nur weil ich sie nicht geboren habe. Sie ist genauso mein Kind–zu hundert Prozent.“
„Ich glaube Ihnen“, sagte sie und es kam ihr so vor, als ob Lindsay diese Art von Rückversicherung dringend nötig hätte.
„Die Polizei hat mich nach ihren leiblichen Eltern gefragt, aber wir haben nie etwas über sie erfahren. Die Mutter wollte eine versiegelte Adoption, und wir ebenfalls. Wir wollten Hayleys einzige Eltern sein und niemand sonst sollte da noch mitmischen. Vielleicht klingt das jetzt egoistisch, aber anders hätte es die Dinge nur unnötig verkompliziert.“
„Weiß die Kleine, dass sie adoptiert wurde?“
„Nein. Wir werden es ihr sagen, wenn sie älter ist.“
„Haben Sie keine Angst, dass jemand aus der Familie sich verplappern könnte?“
„Meine Eltern wissen Bescheid und sind ebenfalls der Ansicht, dass sie damit noch nicht umgehen könnte. Marks Eltern sind bereits verstorben.“
„Wie steht es mit Freunden, Cousins, Nachbarn?“
„Es gibt noch ein paar weitere Personen, die Bescheid wissen, aber die würden nie etwas sagen.“ Lindsay hielt inne und bedachte Bree mit einem fragenden Blick. „Haben Sie irgendwelche Informationen über die leiblichen Eltern? Ich habe den Kommissar gefragt, aber er wollte keine Auskunft geben. Könnten sie daran beteiligt sein?“
„Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, aber wir werden so schnell wie möglich jeder Spur nachgehen. Das verspreche ich Ihnen.“
„Diese Warterei ist die reinste Folter.“
„Ich weiß. Erzählen Sie mir noch etwas darüber, wie Hayley so ist.“
„Sie ist schüchtern, kann aber durchaus lustig sein, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen ist oder sich wohl fühlt. Sie ist fürsorglich und liebt Tiere, vor allem Hasen“, fügte sie mit einem weinerlichen Lachen hinzu und deutete mit dem Kopf in Richtung des Stapels von Stofftieren. „Leider ist mein Sohn Connor hochgradig allergisch, so dass wir kein Haustier haben können. Wie verrückt, dass jetzt ausgerechnet Hunde nach ihr suchen. Die Beamten haben einige ihrer Sachen mitgenommen, damit die Tiere ihren Geruch aufnehmen können.“ Lindsays Lippen bebten erneut. „Bitte, finden Sie sie lebend. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass das nicht der Fall sein könnte.“
„Versuchen Sie, positiv zu bleiben.“
„Sie haben bereits an solchen Fällen gearbeitet, die etwas mit einer weißen Rose zu tun hatten?“
„Ja.“
„Was ist mit diesen anderen Kindern passiert?“
„Das letzte haben wir lebend gefunden. Es geht ihr gut.“ Bree hoffte, dass diese Nachricht Lindsay ein wenig Hoffnung geben würde, doch diese konzentrierte sich auf zwei Worte. „Das letzte? Was ist mit den anderen?“
„Wir wissen ja noch gar nicht, ob Hayleys Fall mit den anderen Entführungen zusammenhängt.“
„Es klingt aber sehr danach.“
„Wir werden alles Menschenmögliche tun, um Ihre Tochter zu finden. Ein riesiges Team ist bereits auf der Suche nach ihr.“
„Ich weiß, und Mark und ich sind Ihnen auch sehr dankbar dafür. Wir wollen einfach, dass Sie sie uns zurückbringen, damit wir sie wieder in die Arme schließen können und nie wieder loslassen müssen.“
„Ich hoffe, dass es bald so weit ist“, sagte Bree, während sie wieder nach unten gingen.
Als sie den Eingang erreichten, kam Mark aus dem Wohnzimmer und zog seine Frau an sich. Sie überließ die beiden ihrem Kummer, trat durch die Tür und bahnte sich einen Weg an den Reportern vorbei, die hartnäckig nachfragten, ob es irgendwelche Neuigkeiten gäbe. Sie enthielt sich jeglichen Kommentars, immerhin war sie bei diesem Fall nicht die offizielle Sprecherin.
Als sie das Ende der Straße erreichte, zog sie ihr Telefon heraus, um die andere Adresse zu überprüfen, die man ihr genannt hatte. Sie wollte mit der einzigen Augenzeugin–Grace Roberts–sprechen, die nur drei Blocks entfernt wohnte. Auch diese war bereits ausführlich verhört worden, aber Bree hatte noch ein paar eigene Fragen an sie. Nun, da seit Hayleys Entführung in der letzten Nacht einige Zeit vergangen war, würde sich Grace möglicherweise an weitere Einzelheiten erinnern.
Sie war schon fast an ihrem Bestimmungsort angelangt, als ihr Telefon vibrierte.
Sie zog es aus der Tasche ihrer marineblauen Hose und bemerkte eine unbekannte Nummer. Ihr Puls begann zu rasen. „Agentin Adams“, meldete sie sich forsch.
„So formell?“, sagte die verzerrte Stimme. „Du und ich–wir werden uns noch sehr nahekommen, Bree.“
„Dann sollte ich vielleicht erfahren, wer du bist?“
„Das würde doch den Spaß schmälern.“
„Was willst du?“
„Das Gleiche wie du–einen würdigen Widersacher.“
„Ich konkurriere nicht mit dir.“
„Tust du nicht?“ Er hielt kurz inne. „Es gefällt mir besser, wenn du deine Haare offen trägst.“ Mit dieser Feststellung legte er auf.
Brees Magen verkrampfte sich, während sie sich verstohlen umsah. Beobachtete er sie etwa?
Sie meinte, auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Vorhang flattern gesehen zu haben, aber das könnte jeder sein, oder auch nur ihre Fantasie.
„Du willst dich mit mir messen?“, murmelte sie. „Dann stell dich besser schon mal darauf ein, dass du verlierst.“
Damit schob sie ihr Telefon zurück in die Tasche und fragte sich, um welche Art von Spiel es hier ging und ob Hayley unfreiwillig daran beteiligt war.
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