Gefährliche Wahl
Gefährliche Wahl
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Auf der Suche nach seinen Angehörigen gelangt FBI-Special-Agent Diego Rivera in ein malerisches kolumbianisches Dorf. Als dort urplötzlich Gewalt ausbricht, wird er in eine Schießerei verwickelt und stößt auf ein brisantes Familiengeheimnis.
Tara Powell führt die Spur ihrer vermissten Freundin nach Kolumbien. Von dem Dorfpriester erhofft sie sich Informationen über deren Verbleib. Doch bevor er ihr etwas verraten kann, wird er brutal ermordet.
Sie schließt sich Diego an, und ihre gefahrvolle Mission führt sie von Südamerika zurück in die USA. Allerdings ist nicht klar, auf wen von beiden die Terroristen es tatsächlich abgesehen haben. Ihre verzweifelte Jagd gegen die Zeit und nach den Menschen, die sie lieben, bringt immer mehr schockierende Tatsachen ans Licht. Macht ihre bedingungslose Loyalität sie blind gegenüber der Wahrheit – oder kann ihr Vertrauen in den jeweils anderen sie doch noch retten?
Was die Leser dazu sagen…
„Wow! Ich habe dieses Buch förmlich verschlungen! GEFÄHRLICHE WAHL ist ein packender, fesselnder Krimi, und auch die Liebe kommt nicht zu kurz. Er reißt einen von Anfang an mit, und man will unbedingt wissen, wie es weitergeht.“ Doni – Goodreads
„Ich liebte all die Irrungen und Wirrungen in GEFÄHRLICHE WAHL. Tara und Diego sind ein klasse Team, und die Chemie zwischen ihnen ist sehr intensiv! Sobald ich das Buch einmal angefangen hatte, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen! Ich kann es kaum erwarten, den nächsten Teil aus der Reihe zu lesen!“ Mindy – Goodreads
„GEFÄHRLICHE WAHL ist eine raffinierte Mischung aus Psychospielchen und atemberaubenden Gefühlen. Ich habe quasi gespürt, wie die Geschichte lebendig wurde und sich mir die Kehle zuschnürte, aber sie aus der Hand zu legen, war selbstverständlich keine Option.“ Isha – Bookbub
„Ich habe Diegos und Taras Geschichte in GEFÄHRLICHE WAHL geliebt. Ein Roman voller Action, Intrigen, Liebe und Emotionen. Ein spannendes Abenteuer rund um den Globus, und ein weiterer Roman der Extraklasse von Barbara Freethy.“ Carol – Goodreads
„Barbara Freethy ist eine Meisterin der romantischen Spannung. Diese Serie ist eine der besten, die ich je gelesen habe. Die Handlung fesselt einen von der ersten Seite an und lässt einen bis zum Ende nicht mehr los.“ Pam – Goodreads
Kapitel 1
In dem kleinen Dorf Cascada in den Hügeln Kolumbiens, mit Blick auf den Suarez River Canyon, läuteten die Kirchenglocken. Sie riefen die Gläubigen zur Gründonnerstagsmesse in St. Catherine‘s, dem offiziellen Auftakt für die Osterwoche, auch bekannt als Semana Santa.
In dem beschaulichen Örtchen gab es keinen Mangel an Glaubensgenossen, allerdings auch keinen an gewalttätigen Kriminellen, von denen viele versteckt in den sanften Hügeln rund um die Stadt lebten und in dem nur eine Stunde entfernt gelegenen Medellín ihren Geschäften nachgingen. Am Gründonnerstag um kurz vor vier Uhr jedoch wurde jeder zu einem Kind Gottes.
FBI-Sonderagent Diego Rivera verließ das Hotel, in dem er erst dreißig Minuten zuvor abgestiegen war. Er hatte gerade noch Zeit gehabt, seinen Koffer abzustellen und nach dem Weg zur Kirche zu fragen, was sich jedoch als unnötig erwies, da bereits Hunderte von Menschen dorthin strömten. So reihte er sich in die Scharen von Touristen und Einheimischen ein und ließ sich mit der Menge über den jahrhundertealten Platz und durch die kopfsteingepflasterten Gassen, gesäumt von farbenfrohen Gebäuden aus der spanischen Kolonialzeit, treiben, wobei sein geschulter, wachsamer Blick die Umgebung nach möglichen Gefahren absuchte. In der kompletten Stadt herrschte ein festliches Treiben. Es war Anfang April, fast Ostern, die Zeit der Wiedergeburt. Die Leute redeten, lachten und genossen die späte Nachmittagssonne, als ob sie sich um nichts Sorgen machen würden.
Er selbst jedoch war nicht so recht in Festtagsstimmung. Achtzehn Jahre lang hatte er nach Antworten auf seine Fragen gesucht, und nun hatte ihn ein Hinweis um die halbe Welt in dieses hübsche, kleine Dorf geführt. Hoffentlich müsste er nicht wieder enttäuscht abreisen, wie schon so viele Male zuvor.
Während er durch die Straßen schlenderte, entdeckte er Anzeichen, dass das moderne Leben auch hier Einzug gehalten hatte: ein Internetcafé, ein neues Notfallzentrum und ein Elektronikgeschäft. Allerdings gab es noch ausreichend Zeugen der Vergangenheit: einen Obst- und Gemüsemarkt unter freiem Himmel, ein paar Ziegen, die in einem nahe gelegenen Hof grasten, gackernde Hühner in einem Stall hinter einem Café sowie kleine Stände, die handgefertigte Waren und Kleidung anboten.
Laut dem Rezeptionisten seines Hotels, einem jungen Mann namens Enrique, wurde Cascada im 17. Jahrhundert gegründet und nach einem Wasserfall benannt, der im Sonnenlicht erstaunlich golden schimmerte. Dem Wasser in dem Becken, in das er hinabstürzte, wurde eine heilende Wirkung nachgesagt. Ein Artikel in einem großen Reisemagazin sechs Jahre zuvor hatte dazu geführt, dass sich die Einnahmen aus dem Tourismus vervierfachten, und nun gab es nur noch wenige Monate im Jahr, in denen die örtlichen Unterkünfte nicht ausgebucht waren.
Eine ältere Frau, deren langes braunes Haar ihr bis zur Taille fiel, erregte seine Aufmerksamkeit, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Dann jedoch drehte sie sich um, und ihre Züge waren die einer Fremden. Es war nicht seine Mutter, aber er kam nicht umhin, sich zu fragen, ob diese ihr langes Haar all die Jahre behalten hatte, ob sie dieselben Straßen entlanggelaufen war, ob sein jüngerer Bruder, wie so viele Kinder aus dem Dorf, im Brunnen auf dem Platz gespielt hatte.
Vielleicht waren sie aber auch überhaupt nie hier gewesen. Vielleicht wäre auch diese Reise nichts weiter als Zeitverschwendung.
Er verbannte die zynischen Gedanken aus seinem Kopf. Solange er nichts Genaueres wusste, sollte er nicht spekulieren. Seit seinem College-Abschluss hatte er aktiv nach seiner Mutter und seinem Bruder gesucht, aber sie waren bereits acht Jahre zuvor aus seinem Leben verschwunden, achtzehn Jahre insgesamt also.
Ihre Spur war sehr kalt geworden. Zudem hatte es in den letzten zehn Jahren viele falsche Hinweise, vergebliche Trips, unerfüllte Erwartungen, Enttäuschungen und Frustrationen gegeben, und er befürchtete, dass ihm der heutige Tag noch mehr davon bescheren würde. Allerdings vermittelte ihm dieses abgelegene Dorf auch ein wenig Hoffnung. Vielleicht war es genau die Art von Ort, den man auswählen würde, wenn man untertauchen wollte.
Und genau das hatte seine Mutter getan. Sie war untergetaucht.
Eigentlich war es kaum zu glauben, dass es ihm trotz all seiner Ressourcen beim FBI nicht gelungen war, sie oder seinen Bruder aufzuspüren.
Jetzt allerdings gab es eine Spur. Der Tipp stammte von Special Agent Tracy Cox, einer Frau, mit der er ein Jahr zuvor eine heiße Nacht verbracht hatte. Diese Eskapade war ein Fehler gewesen, aber Tracy erwischte ihn damals zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Dazu war noch jede Menge Alkohol im Spiel gewesen. Er hatte ihr viel zu viel von sich erzählt, und ihre kurze Affäre hatte nicht besonders erfreulich geendet, als sie ihm eine weitere Nacht vorschlug und er diese ablehnte.
Irgendwie hatten sie es geschafft, die Sache zu klären und waren Freunde geblieben … zumindest nahm er das an. Trotzdem verstand er nicht wirklich, was sie plötzlich dazu bewog, ihm bei seiner Suche zu helfen. Egal – ein Hinweis war ein Hinweis, ihre Motive dafür etwas, mit dem er sich später auseinandersetzen würde.
Als sein Telefon vibrierte, zog er es aus der Tasche und trat auf den Bürgersteig, um die Nachricht zu lesen. Sie kam von seinem Chef, Roman Walker, der wissen wollte, wann er in Washington ankäme. Er hatte gerade einen zweimonatigen Anti-Terror-Einsatz in Brasilien beendet, wo es ihnen gelungen war, zwei aktive Zellen aufzudecken und den Waffenfluss zu dieser Gruppe zu stoppen.
Also antwortete er, dass er unbedingt einige Tage frei bräuchte, wahrscheinlich jedoch am Mittwoch zurück wäre. Das gab ihm ein wenig Zeit, um weitere Nachforschungen anzustellen. Außerdem hatte er noch genug Urlaubstage übrig, da er die letzten Monate meist an die sechzig Stunden pro Woche gearbeitet hatte.
Danach steckte er sein Handy zurück in die Tasche und ging weiter die Straße hinunter. Er wünschte, er wäre früher angekommen. Es könnte schwierig werden, Pater Manuel noch vor der Messe zu erwischen, aber möglicherweise hatte er ja Glück.
Als Diego die Kirche erreichte, wandte er sich einem der Seiteneingänge zu. Das erschien ihm sinnvoller, als sich mit den übrigen Massen an Besuchern durch das Hauptportal zu drängen.
In einem der äußeren Gänge entdeckte er einen älteren Priester, der in ein sehr hitziges Gespräch mit einer Frau verwickelt schien.
Sie trug weiße Jeans und eine fließende, ärmellose, geblümte Bluse. Eine große, beigefarbene Tasche hing über ihrer Schulter, und ihre Füße steckten in hochhackigen Keilsandalen. Inmitten der Menschenmenge, wo jeder, so wie auch er, dunkles Haar und braune Augen hatte, stach sie mit ihrem goldblonden Schopf extrem hervor. Gerade schüttelte sie die seidige Mähne und schien den Priester zu unterbrechen.
Obwohl sie Spanisch miteinander sprachen, vermutete er, dass sie Amerikanerin war.
Er trat ein paar Schritte näher. Die beiden waren so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie ihm keine Beachtung schenkten.
„Por favor, bitte“, bettelte sie.
Ihr Gegenüber, hochgewachsen, mit schütterem, grauem Haar und etwa Ende siebzig, tätschelte ihr beruhigend den Arm und redete in gedämpftem Ton auf sie ein, leider so leise, dass Diego nichts von dem verstehen konnte, was er sagte.
Die Frau stieß einen verzweifelten Seufzer aus, doch als der Geistliche auf den Seiteneingang der Kirche deutete, setzte sie sich zögerlich in Bewegung.
Als der Priester sich anschickte, ihr zu folgen, eilte Diego ihm hinterher. „Padre“, sprach er ihn an. „Vater Manuel?“
Der ältere Mann hielt inne und warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Sí?“
„Mein Name ist Diego Rivera. Möglicherweise kennen Sie meine Mutter, Camilla Rivera. Es könnte auch sein, dass sie sich mittlerweile Camilla Lopez nennt“, fügte er hinzu und bezog sich damit auf ihren Mädchennamen. „Haben Sie eine Ahnung, wo sie wohnt? Wo ich sie finden kann?“
„Camilla? Wissen Sie es denn nicht?“ Er zog die dunklen Brauen zusammen.
„Was weiß ich nicht?“ Ein ungutes Gefühl beschlich ihn.
„Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber …“
Bevor Pater Manuel seinen Satz beenden konnte, kam ein Ministrant herangeeilt und gab ihm zu verstehen, dass es Zeit sei, mit der heiligen Messe zu beginnen.
„Ich muss mit dem Gottesdienst anfangen. Wir sprechen später weiter“, sagte der Priester.
„Ich brauche nur eine Minute“, bettelte Diego, aber der Geistliche wandte sich ab und verschwand im Inneren der Kirche.
Voller Unruhe folgte er ihm.
Der Mann hatte gesagt, dass es ihm leidtäte … Das hatte sich gar nicht gut angehört. Hoffentlich bedeutete das lediglich, dass seine Mutter die Stadt verlassen hatte und er nichts über ihren aktuellen Aufenthaltsort wusste.
Als er das Gotteshaus betrat, musste er feststellen, dass es nur noch Stehplätze gab. Er ging den Seitengang entlang nach hinten und stellte sich auf einen freien Fleck neben den Beichtstühlen, direkt hinter die attraktive, nervös wirkende Blondine. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und sah ihn prüfend an. Ihre Augen waren von einem tiefen Blau, und er versteifte sich, als ihre Blicke sich trafen. Sie nickte ihm knapp zu, lächelte jedoch nicht. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Altar, wo Pater Manuel mit der Messe begann.
Im Verlauf des Gottesdienstes ließ er seinen Blick durch die Kirche schweifen und bemerkte mehrere Männer, die wie Leibwächter aussahen und in der Nähe der vorderen Kirchenbänke standen. Als einer von ihnen eine kleine Bewegung machte, sah er eine Waffe an dessen Hüfte aufblitzen. Das überraschte ihn nicht weiter. Das Dorf war zwar ein Mekka für Touristen und die Bewohner äußerst fromm, die nahe gelegenen Ländereien jedoch ein Paradies für Koka-Anbauer, die den kolumbianischen Kokainmarkt belieferten.
Als der Priester die Hände hob, um zum Gebet aufzufordern, hallte ein Schuss durch die Kirche.
Fassungslos beobachtete Diego, wie Pater Manuel rückwärts gegen den Altar taumelte. Blut spritzte aus seiner Brust. Ein zweiter und dritter Schuss fiel, Entsetzensschreie ertönten.
Impulsiv warf er die Frau vor sich zu Boden, während weitere Kugeln von der Chorempore auf die Gemeinde niederprasselten. Einige der Männer, die ihm zuvor an der vorderen Kirchenbank aufgefallen waren, begannen zurückzufeuern, aber er konnte nicht sehen, auf wen sie zielten.
„O mein Gott! O mein Gott!“, kreischte die Frau, der Angst und Panik ins Gesicht geschrieben standen.
„Wir müssen hier raus.“ Er ergriff ihre Hand, und sie klammerte sich an ihn, als sie zum rückwärtigen Seitenausgang stürmten. Viele andere versuchten ebenfalls zu fliehen, und Diego befürchtete, dass sie niedergetrampelt oder getroffen werden könnten, bevor sie nach draußen gelangten, aber irgendwie schafften sie es.
Draußen im Freien warf sie ihm einen entsetzten Blick zu.
„Weg von hier“, rief er und zog sie mit sich, während sie über die Grünfläche eilten und den Häuserblock hinunterrannten. Hinter einer dichten Baumreihe tauchte der Friedhof vor ihnen auf. An dessen Rückseite entdeckte er ein Mausoleum, das Schutz versprach.
Eilig liefen sie durch das Tor, durch Reihen von Gräbern und um die Grabstätte herum … und fanden sich vor einer hohen Mauer wieder.
„Wir sitzen in der Falle“, stöhnte sie panisch auf.
„Immerhin sind wir hier sicherer als auf der Straße“, antwortete Diego und spähte um die Mauer herum.
„Was geht da vor sich?“ Sie legte ihre Hand auf seinen Rücken und versuchte, einen Blick über seine Schulter zu werfen.
Bevor er antworten konnte, kam ein weißer Lieferwagen mit quietschenden Reifen die Straße entlanggerast und entfernte sich in höllischem Tempo von der Kirche. Zeitgleich näherten sich aus der entgegengesetzten Richtung Polizeiwagen mit heulenden Sirenen.
„War das der Schütze?“, fragte die Frau und deutete auf den Van. „Ist er weg?“
„Ich weiß es nicht.“ Er drehte sich zu ihr um. „Lassen Sie uns lieber noch ein paar Minuten warten.“
Sie nickte knapp, ihr Atem ging kurz und schnell. „Vater Manuel?“
„Es sah nicht gut aus.“
„Ich sollte nach dem Gottesdienst mit ihm sprechen.“ Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. „Er sagte, er würde mir helfen, und jetzt ist er womöglich tot. Das kann doch einfach nicht wahr sein. Warum sollte jemand diesen alten Mann erschießen? Er ist doch ein Priester, um Himmels willen.“
Die gleichen Fragen gingen ihm durch den Kopf. Und genau wie diese Frau hatte auch er gehofft, von dem Pater nach der Messe wichtige Informationen zu erhalten.
„War es eine oder mehrere Personen, die geschossen haben?“, fragte sie.
„Das konnte ich nicht erkennen. Die Schüsse kamen von der Empore über uns.“
„Aber andere haben das Feuer erwidert.“
„Ja, das habe ich auch bemerkt. Wahrscheinlich Mitglieder des örtlichen Kartells. Möglicherweise sind wir mitten in einen Bandenkrieg geraten. In diesem Teil Kolumbiens wimmelt es nur so von Drogenhändlern.“ Er hielt kurz inne. „Wie heißen Sie?“
„Tara – Tara Powell“, sagte sie mit zitternder Stimme.
„Sie sind Amerikanerin?“
„Ja. Und Sie?“
„Ebenfalls. Mein Name ist Diego Rivera.“
„Wie der Maler?“, fragte sie erstaunt.
Er lächelte. „Ja. Meine Mutter war fasziniert von seinen Bildern. Leider habe ich selbst mit Kunst so gar nichts am Hut.“
„Oh“, sagte sie und strich sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr.
„Sie haben vorhin bei Ihrem Gespräch mit Pater Manuel ziemlich aufgewühlt ausgesehen. Wobei sollte er Ihnen helfen?“
Ihre Augen blitzten überrascht auf. „Sie haben uns beobachtet?“
„Ich wartete in dem äußeren Gang, weil ich ihn ebenfalls sprechen musste, wollte Sie jedoch nicht unterbrechen. Es schien mir eine emotionale Sache zu sein. Sie machten einen verärgerten Eindruck.“
„In der Tat. Ich hatte bereits gestern ein Gespräch mit ihm, und er bat mich, heute nochmals wiederzukommen und versprach, mir dann die gewünschten Informationen zu geben. Dann jedoch war er plötzlich nicht mehr bereit dazu. Keine Ahnung, was zwischenzeitlich passiert ist und warum er seine Meinung geändert hat. Er versicherte mir, wir würden später nochmals in aller Ruhe sprechen und bat mich zu warten. Und jetzt …“ Sie schüttelte erneut ungläubig den Kopf. „Was auch immer er mir erzählen wollte, ist mit ihm gestorben.“
„Wobei benötigten Sie seine Hilfe?“
„Das spielt keine Rolle mehr. Wie auch immer … Die Polizei müsste jetzt in der Kirche sein. Eigentlich können wir gehen, oder was meinen Sie?“
„Gleich. In diesem Teil der Welt sind die Polizisten nicht immer die Guten.“
„Schon klar, aber in diesem Fall glaube ich, dass sie es sind. Zumindest hoffe ich es.“ Ihre Finger spielten nervös mit einem silbernen Herz, das an einer Kette um ihren Hals hing. „Ich kann es immer noch nicht fassen, dass jemand einen Priester in seiner eigenen Kirche erschießt. Die Täter glauben wohl nicht an göttliche Vergeltung.“
„Anscheinend nicht“, stimmte er zu. „Wann sind Sie hier eingetroffen?“
„Gestern.“
„Urlaub?“
Ein wachsamer Ausdruck trat in ihre Augen. „Nicht wirklich.“
„Was soll das heißen?“
„Sie stellen eine Menge Fragen.“
„Ich bin nun mal ein neugieriger Mensch. Wofür benötigten Sie die Hilfe des Priesters?“
„Das ist etwas Persönliches. Warum wollten Sie ihn denn sprechen?“, konterte sie.
„Das ist ebenfalls persönlich.“
Tara atmete scharf aus. „Glauben Sie, die Angreifer wollten den Pater gezielt zur Strecke bringen? Oder hatten sie einfach nur den Vorsatz, am Gründonnerstag ein Gemetzel in dem Gotteshaus zu veranstalten?“
„Meiner Meinung nach war es ein gezielter Anschlag.“
„Ob viele Leute getötet wurden?“
„Ich weiß es nicht. Hoffentlich nicht.“
Diego warf einen weiteren vorsichtigen Blick um die Ecke des Mausoleums. Die Straße jenseits des Friedhofs war jetzt leer, doch dann raste ein Krankenwagen vorbei in Richtung Kirche. War dieser für den Padre bestimmt oder für jemand anderen?
„Ich möchte weg von hier, zurück ins Hotel“, sagte Tara, und ihre Stimme klang verzweifelt.
Diego wollte ihr gerade sagen, dass sie gehen könne, als sein Blick an einem nahe gelegenen Grabstein hängen blieb, und ihm erneut die letzten Worte des Priesters durch den Kopf schossen. „Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber …“
Eine Aussage, die oft mit Worten wie … Ihr geliebter Angehöriger ist tot … schloss.
„Der Friedhof“, sagte er laut und umrundete die Mauer, während ihn dieser schier unerträgliche Gedanke nicht mehr loszulassen schien.
„Gehen wir?“, fragte Tara.
„Ich muss erst nachsehen, ob sie hier ist.“
„Wer ist sie?“
Er ignorierte ihre Frage und schritt die erste Reihe der Gräber ab, wobei er die Inschriften auf den Grabsteinen überflog.
„Was tun Sie da?“, fragte Tara, als er erneut an ihr vorbeikam.
„Ich suche nach einem Namen“, erwiderte er kurz angebunden.
„Kann das nicht warten? Oder wissen Sie was? Tun Sie, was Sie nicht lassen können, und ich kehre zwischenzeitlich ins Hotel zurück.“
Er konnte ihr nicht antworten. Quälende Angst schnürte ihm die Kehle zu. Schnellen Schrittes lief er die nächste Reihe entlang, dann die nächste, und bei jedem Grab schöpfte er neue Hoffnung, dass er sich vielleicht irrte, dass Pater Manuel ihm keine schreckliche Nachricht hatte verkünden wollen.
Dann jedoch entdeckte er den Namen Camilla und blieb abrupt stehen, las ihren Namen mit einem wachsenden Gefühl des Entsetzens und Unglaubens. Camilla Lopez Salazar war zusammen mit den Worten Madre Amada – Geliebte Mutter – in den Stein eingraviert. Der Salazar-Teil ihres Namens war ihm unbekannt, aber das Geburtsdatum stimmte mit dem seiner Mutter überein.
Ihr Todestag versetzte ihm einen weiteren Schock. Sie war vor vierzehn Jahren gestorben. Vor vierzehn Jahren!
Damals war er gerade siebzehn gewesen und hatte noch nicht einmal damit begonnen, nach ihr zu suchen.
Der Schmerz durchfuhr ihn wie ein Messerstich. Er fiel auf die Knie, sein Atem ging schwer und schnell.
„Diego?“
Mit tränenverschleiertem Blick sah er zu Tara auf, die ihr Versteck ebenfalls verlassen hatte und ihn mit gerunzelter Stirn betrachtete.
„Wer ist hier begraben?“ Sie deutete mit dem Kinn in Richtung des Grabsteins.
Er blickte erneut darauf. „Meine Mutter.“ Die Worte kamen ihm nur schwer über die Lippen. Bei all den Szenarien, die er sich ausgemalt hatte, war dies das am wenigsten wahrscheinliche gewesen. Niemals! Und sie war nicht einmal fünfzig Jahre alt geworden. Was zum Teufel war nur passiert?
„Ihre Mutter?“, fragte Tara schockiert. „Und Sie hatten keine Ahnung davon?“
„Ich wusste nicht einmal, dass sie tot ist“, erwiderte er knapp. „Ich suche schon ewig nach ihr, dabei ist sie vor Jahren gestorben. Die ganze Zeit über lag sie hier auf diesem kleinen Friedhof, Welten entfernt von dem Ort, an dem wir lebten. Pater Manuel wollte mir vorhin noch sagen, dass etwas nicht stimmte, aber er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Jetzt weiß ich, was er mir mitteilen wollte.“
„Das tut mir wahnsinnig leid“, sagte Tara leise.
Diego schüttelte den Kopf, Wut und Bedauern lag in seinem Blick. „Wenn ich früher mit der Suche nach ihr begonnen hätte, wenn mein Vater nicht so ein Arschloch gewesen wäre, wenn meine Großmutter den Mut gehabt hätte, ihm die Stirn zu bieten … Vielleicht …“ Er atmete schwer ein, erneut traf ihn die Wahrheit wie ein Schlag in die Magengrube. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie tot ist.“ Plötzlich bemerkte er die frischen Blumen auf ihrem Grab. Jemand musste sie erst vor wenigen Tagen hier niedergelegt haben.
Aber wer?
Konnte er es wagen zu hoffen, dass er nicht alles verloren hatte?
Als er sich erhob, bemerkte er im Schatten der Bäume eine schemenhafte Gestalt. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er, es könnte Mateo sein, aber der große, dürre Mann in Jeans und Kapuzenpulli kam ihm nicht bekannt vor.
Als dieser sie erblickte, zog er eine Waffe.
Diego schaffte es gerade noch rechtzeitig, Tara aus dem Weg zu zerren, als auch schon die ersten Kugeln von dem Grabstein abprallten. Erneut griff er nach ihrer Hand, und gemeinsam hetzten sie über den Friedhof und schlüpften durch ein dichtes Gebüsch, das zum Glück etwas Deckung bot. Weitere Schüsse fielen, das Geräusch kam gefährlich nahe.
Sie rannten in Richtung der wilden Hügel hinter dem Dorf und suchten Schutz hinter Bäumen und Sträuchern. Irgendwann hörte die Befeuerung auf, aber Diego lief noch gefühlte zwanzig Minuten weiter und blieb erst stehen, als sie sich auf halber Höhe eines kleinen Berges befanden, ungefähr ein oder zwei Kilometer von der Kirche entfernt. Von ihrem Aussichtspunkt aus konnten sie das Dorf, den Friedhof und die Polizeiautos überblicken, befanden sich jedoch selbst im Schatten der Bäume und Felsen und somit außer Sichtweite.
„Warum hat er auf uns geschossen?“, fragte Tara, noch immer keuchend von der ungewohnten Anstrengung. „Ich dachte, der Schütze wäre längst über alle Berge.“
Trotz ihrer hochhackigen Sandalen hatte sie gut Schritt mit ihm gehalten. Okay, ein paar Mal war sie gestrauchelt, aber er hatte sie stets wieder hochgezerrt.
„Ich ebenfalls“, erwiderte er grimmig. „Vielleicht waren es mehrere, und einer von ihnen ist zurückgeblieben. Möglicherweise war er überrascht, als er uns auf dem Friedhof entdeckte und fühlte sich überrumpelt.“
„Und entschloss sich spontan, uns zu erschießen? Warum? Das alles ergibt null Sinn.“
Sie hatte recht – es ergab wirklich keinen Sinn.
Hatte ihn jemand nach Kolumbien verfolgt, zu dem Priester, seiner einzigen Chance, seine Mutter zu finden? Aber warum? Wer um alles in der Welt sollte sich für seine Familiengeschichte interessieren?
Sein Blick wanderte zurück zu der Frau an seiner Seite. Erneut dachte er an ihre eindringliche Unterhaltung mit dem Padre und fragte sich, ob die Schüsse überhaupt ihm gegolten hatten. „Stecken Sie in Schwierigkeiten, Tara?“
Ihre Miene verfinsterte sich. „Warum fragen Sie mich das? Glauben Sie, der Anschlag galt mir?“
„Sagen Sie es mir.“
„Möglicherweise war der Schütze ja hinter Ihnen her“, konterte sie. „Vielleicht hat er etwas mit Ihrer Mutter zu tun.“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Die eigentliche Frage ist doch wohl – was machen wir jetzt?“
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